Einsamkeit total: Zum Nordkinn, der nördlichsten Festlandsspitze unseres Kontinents
von J. Hermann




Immer schon trieb es mich, einen Extrempunkt der Erde aus eigener Kraft zu erreichen. Jahrzehntelang mußte dieses Vorhaben hinter anderen Prioritäten zurückstehen. Jetzt, mit über siebzig, bin ich für Everest, Nord- oder Südpol schon ein bißchen zu verschlissen. So ließ ich mich von einem Paar anstecken, dem ich in der Wildnis Lapplands begegnete. Die beiden wanderten von Bodö an der Westküste Norwegens quer durch die Finnmark zum Nordkinn. Jeden Sommer machten sie dort weiter, wo sie im Jahr zuvor aufgehört hatten.

Nordkinn - was ist denn das? Wo liegt es?

Alljährlich zieht es Tausende aus südlicheren Ländern zum Nordkap, dem nördlichsten Punkt Europas. Die meisten rollen im Auto dorthin, ein paar Unentwegte mit dem Fahrrad. Daß dieses Kap gar nicht zum Festland gehört, sondern auf der Mageröy (öy=Insel) liegt, stört kaum einen. Ich gebe ja zu: Ich war auch dort, vor dreißig Jahren, und eigentlich ohne es zu wollen. Warum dann doch, das zu erklären würde eine eigene Story füllen...

Die echte Nordspitze unseres Kontinents, das "Nordkinn", befindet sich 65 km ostwärts und nur einen zwanzigstel Breitengrad südlicher. Während am Nordkap die Touristen Schlange stehen, um sich abkassieren zu lassen, ist auf dem Nordkinn Einsamkeit garantiert. Kein Wunder: Es gibt keine Straße;, nicht einmal einen Trampelpfad dorthin: Wildnis pur.

Noch im selben Sommer versuchte ich es. Meine Idee war, "einfach" der Telegrafenlinie zu folgen, die den kleinen Eismeerhafen Mehamn mit dem Süden verband. Erst nach zwei Tagen ging mir auf, daß ich mich gleich beim Start um viele Kilometer verhaün hatte - eine dumme Verwechslung und eine grobe Karte waren schuld - und in der restlichen Zeit das Ziel niemals erreichen konnte. Der Rückmarsch bei zeitweise aufliegenden Wolken machte die Risiken deutlich, die ich bei dem spontanen Aufbruch eingegangen hatte. Mit viel Glück fand ich den Weg zurück, den ich gekommen war.

Zwei Jahre später - die beiden Wanderer von damals hatten ihr Ziel inzwischen erreicht - versuchte ich es wieder, mit detaillierten Karten versorgt und von zwei jungen Freunden begleitet. Wie geplant folgten wir der endlosen Kette der Telegrafenmasten. Auf dem Ifjordfjell überfiel uns ein Wettersturz. Der Boden, teils moorig und quitschnass, teils grob geröllig, machte Zelten illusorisch. Vor Hagel, Schnee und Sturm fanden wir Zuflucht in der "Telegrafstü", dem einzigen Unterschlupf weit und breit. Längst verlassen und dem Verfall preisgegeben, bot sie notdürftigsten Schutz. Nach 36 Stunden vergeblichen Wartens auf besseres Wetter kehrten wir um.

Der dritte Anlauf: Inzwischen hatte man die Straße; 888 von Ifjord zur Kalak-Fähre über Bekkarfjord hinaus bis nach Mehamn ver- längert. Sozusagen brandneu: Die alten Schilder waren noch nicht ausgetauscht. Nur der tote Fährhafen und "reger" Verkehr von und nach Norden (fünf Autos pro Stunde) ließen ahnen, daß man jetzt bequem über das Fjell fahren könnte, das uns so brutal abgewiesen hatte.

So war es. Unter heiter-blaüm Himmel rollte ich nach Mehamn. Die über 100 Kilometer zum Nordkinn waren auf ein Fünftel geschrumpft. Sollte ich das Kajak flott machen oder zu Fuß gehen? Den Füssen traute ich mehr zu als den Händen; außerdem: Sollte ich das Ziel, dessen Besonderheit ja gerade der Landzugang ist, auf dem Wasser ansteuern? Und: Würde mich wieder ein Unwetter heimsuchen, so waren meine Chancen an Land wohl besser als auf See.

Zwei Kilometer südlich Mehamn liegt ein Parkplatz mit Bach und Mülltonne an der Straße;. Der wurde mein Stützpunkt, nachdem ich erkundet hatte, daß andere, vielleicht günstigere Startstellen durch den Flughafen blockiert sind. Auf der Karte arbeitete ich die Route aus, die ich gehen wollte: erst auf kürzestem und möglichst "ebenem" Wege nach NW zum Hauptkamm, der in das Nordkinn ausläuft; dann auf diesem Kamm nordwärts.

Über die Bodenbeschaffenheit verriet die Karte nichts, und ihre Höhenlinien im 30 m-Abstand waren eigentlich zu grob. Wie und worin unterschied sich die Nordkinn-Halbinsel vom Ifjordfjell, über das ich bei den ersten Versuchen nicht hinausgekommen war? Wie schwer sollte/durfte ich mich beladen? Daß das Zelt mit mußte, war klar - 40 km Wildnis ohne Biwak traute ich mir nicht mehr zu. Beim Proviant war ich geiziger: Ich kann schon mal einen oder zwei Tage hungern. 17 kg hatte ich auf dem Buckel, als ich losmarschierte. Erstes Hindernis: der wasserreiche Mehamnelv. Ich fand eine Stelle, wo er sich stark verbreitert und verflacht; meine Gummistiefel reichten hoch genug. Dann ging's leicht ansteigend, manchmal sumpfig, fast überall grün bewachsen, zum Rand der Sörfjordelv-Rinne. Absteigen, waten, dann wieder bergauf: Schade um die Höhenmeter! Über mir zogen Schönwetterwolken nach Südosten: Ich freute mich auf eine Mitternachts- Sonnen-Rast am Ziel. Zur Rechten, schon klein wie Spielzeug, grüßte das bunte Städtchen Mehamn, blaßblau dahinter das unendliche Eismeer. Ringsum Grün, darüber felsig- geröllige, aber zahm anmutende Berge.

Allmählich veränderte sich das Gelände. Je höher ich stieg, umso mehr blieb das Grün zurück, und das Geröll, das aus der Ferne so feinkörnig ausgesehen hatte, erwies sich aus der Nähe als grob bis saugrob. Längst hatte ich die Baumgrenze unter mir, und nun wurden auch die Sträucher selten. Das Gehen entwickelte sich zum mühsamen, oft riskanten Balancieren und Springen von Stein zu Stein. Die Täler, die ich auf dem Wege zum Hauptkamm zu queren hatte, verlangten weite Umwege, wenn ich dem gröbsten Schotter ausweichen wollte. Oft genug, vor allem bergab, wenn die Steine jeden Einblick verwehrten, blieb mir gar nichts anderes übrig, als geradeaus über die Felsblöcke zu stolpern. Die Gegenhänge boten mehr Einsicht, und so konnte ich für die Anstiege oft Routen mit viel Grün und wenig Geröll aussuchen. Blau schimmernde Seen - viele von einem ungastlichen Blockmeer umgeben - lockerten das Bild der Steinwildnis auf, durch die ich nun wanderte. Weit draußen im Eismeer schwamm eine Fischereiflotte. Daürnd schien sich die Formation zu verändern: Die hohe Dünung verdeckte die Fahr- zeuge abwechselnd. Ob ich mich auf See wohler gefühlt hätte als hier?

Der letzte Aufstieg zum Hauptkamm führte über Schneefelder. Am Rande einer weißen Fläche weideten zwei Rentiere. Fanden die dort etwas Freßbares oder hatten sie nur Lust auf Gefrorenes? Endlich war ich oben. Die Wildnis hatte mir wieder einmal ihre Messlatte gezeigt: Fast sieben Stunden für neun Kilometer Luftlinie und ganze 250 Meter Höhengewinn... Ob die Strecke zum Nordkinn bis Mitternacht zu schaffen war?

Jeder Hochpunkt des Kammes trägt ein Steinmal. In dieser Mondlandschaft, die für mich bei allem Reiz überall irgendwie gleich aussah, brauchte ich Hilfen zum Zurückfinden. Bei meinem schwachen Bildergedächtnis muß ich mir Einzelheiten im Gelände mit Worten merken. Den Seen, an denen ich entlangwanderte, gab ich eigene Namen, um sie mir einzuprägen ("Insel-See", "Rippen-See", "Mondsichel-See"). An Stellen, die mir kritisch erschienen, baute ich Steinmänner auf; auch einen da, wo ich den Kamm erreicht hatte.

Der Rücken zeigte sich viel unebener als die Karte erwarten ließ. Die oft senkrechte Gesteinsschichtung endete an der Oberfläche in Feldern scharfer Rippen, spitzer Nadeln oder war zu grobem Schotter verwittert. Wo immer ich "Grün" fand, verfolgte ich es. Die Rentiere gaben mir wertvolle Tips mit ihren Pfaden, die schon von vielen Generationen ausgetreten waren. Schließlich lernte ich auch, ihre Fährten im Geröll zu erkennen und zu verfolgen. Die intelligenten Tiere finden die kürzesten Furten von Grün zu Grün. Allerdings strebten sie meist woanders hin als ich...

Der Kamm wird immer wieder von Einsattelungen unterbrochen. Keine tiefen Scharten, mal dreißig, mal sechzig Meter, aber jedesmal über schlecht einsehbares Geröll. Nachher, beim Wiederaufstieg konnte ich sehen, wie ungeschickt meine Abstiegsroute gewählt war - nur: Was nützte die späte Erkenntnis?

Bei der dritten oder vierten Delle lockte rechts unten ein See mit einer richtigen Uferwiese. Das Gras war zwar hart und mit noch härteren, teils stachligen Kräutern durchsetzt, aber ob ich so ein Idyll noch einmal finden würde ? Die Entscheidung fiel rasch: "Mitternacht am Nordkinn" fällt aus - neun Stunden Schwerarbeit waren genug! Bald stand das Zelt. Die Sonne wärmte wohlig, und das glasklare, aber eiskalte Wasser des Sees verführte mich zu einem erfrischenden, wenngleich sehr kurzen Bad.

Hungrig ? Natürlich! Jetzt tat es mir leid, daß ich nicht ein paar Gramm mehr eingepackt hatte, nicht einmal eine zweite Kartusche für den Kocher (die angebrochene hat dann viel länger als befürchtet ausgereicht). Wo war der Tee? Vergessen! So kochte ich "Tee" aus Rosinen und ein paar Kräutern von der Wiese und aß eine Tafel Schokolade dazu. Trotz strahlender Sonne schlief ich sofort ein.

Irgendwann in der taghellen Nacht weckten mich Stimmen: Nanu - war ich doch nicht ganz allein? Raus ins Freie: In respektvollem Abstand diskutierten einige Rentiere, was von dem ungewohnten Objekt und seinem Bewohner zu halten sei.

Kurz nach fünf Uhr morgens war ich wieder marschbereit. Meine Strategie hieß nun: Das Zelt mit allem Entbehrlichen stehen lassen (auf dem Rückweg hoffentlich nicht verfehlen), und mit leichtestem Gepäck die zweimal acht Kilometer zum Ziel und zurück gehen. Der Himmel war weniger freundlich als gestern - ob es noch den ganzen Tag über trocken bleiben würde? Nasses Geröll - davor hatte ich die meiste Angst.

Noch einen letzten Blick zum Zelt am See und rundum, um mir den Platz zu merken. Dann marschierte ich wieder auf dem breiten Kamm, verfolgte die seltenen grünen Streifen. Voraus lag der zweihundert Meter hohe Ost-Abbruch vom Fjell zum Eismeer. Mein "Weg" verlief zwischen 200 und 250 m Höhe und wandte sich in einer weiten, tiefen Mulde von NNO nach NNW auf die letzte Hochfläche. Unübersehbar deutlich blieben nun die Steilküsten zu beiden Seiten zurück, wanderten nach Süden achteraus. Im Westen, gerade eben noch als Schatten auszumachen, schob sich das Nordkap ins Bild. Von meinem Ziel, dem Nordkinn, hatte ich bis dahin noch nichts sehen können - der breite, hohe Rücken, den ich nun ersteigen mußte, deckte es ab. Oben, 300 m über dem Meer, breitete sich vor mir eine sanft ansteigende, überraschend leicht gangbare Fläche aus, mit viel Bewuchs. Rentierherden weideten die Grünflecken ab.

Endlich hatte ich den höchsten Punkt überschritten, bekam zum ersten Mal die Spitze des Nordkinn-Felskegels zu Gesicht. Weiter rechts, am Rand des Fjells, dicht vor dem Abbruch zum Meer, sprang mir etwas in die Augen, was ganz und gar nicht hierher passte: ein Flugzeug!

Die Wanderfreunde hatten berichtet, daß sie kurz vor dem Nordkinn auf das Wrack einer Ju 88 gestoß seien. Später hatte mir jemand erzählt, es sei geborgen worden. War inzwischen wieder einer hier oben notgelandet? In der riesigen Weite nahm sich die Maschine klein wie ein Sportflugzeug aus. Natürlich zog es mich geradeswegs dorthin. Der Vogel war die Ju 88 von damals. Unübersehbare Spuren verrieten, daß das Wrack irgendwann ausgeweidet worden war. (Später erfuhr ich durch einen norwegischen Experten mehr über die Not- landung im Februar 1943 und entdeckte dann einen Neffen des Bordfunkers unter meinen Arbeitskollegen - die Welt ist klein... )

Wie unterschiedlich hatten sich die verschiedenen Teile in fast 50 Jahren verändert: Die Bleche sahen wie neu aus, manch anderes war zu Pulver zerfallen. Die "Verwerter" hatten das Flugzeug gründlich demoliert; als "bergungsunwürdiger Schrott" wird es nun wohl noch für Jahrhunderte die Wildnis "zieren".

Minuten später erreichte ich den Abfall zur letzten Senke vor dem Nordkinn-Felsen: Grober Schotter, so steil, daß ein ungeschickter Tritt alles ins Rutschen bringen konnte; kaum ein Fleckchen Grün dazwischen. Unschlüssig schaute ich in die Tiefe: Sollte ich die schwierige und gefährliche Kraxelei wagen? Dann siegte der Ehrgeiz. Noch eineinhalb Kilometer: So dicht vor dem Ziel umkehren? Nein!!

Beinahe zweihundert Höhenmeter mußte ich abkraxeln. Ob sich für den Rückweg eine bessere Route finden liess? Am Gegenhang konnte ich fast durchgehend auf "Grün" steigen. Noch ein letzter Graben, dann lehnte ich meinen Rucksack an die Steinpyramide, die das Nordkinn krönt. Die Sonne strahlte zwischen dünnen Wolken - sie wärmte, aber sie brannte nicht. Ein einsames Schifflein pflügte das Meer. Nur schwach drang das Rauschen zu mir herauf. Stille und Einsamkeit rundum! Ich brauchte eine Weile, um zu begreifen, daß ich "angekommen" war, jenen Punkt erreicht hatte, dem jahrelang mein Sinnen und Trachten gegolten hatte. Für Augenblicke huschte der Gedanke durchs Gehirn: "Wenn mir nun etwas zustieße?" Ich hatte in keiner Weise vorgesorgt. Die nächsten Menschen wohnten in Mehamn, 13 Kilometer entfernt, ohne Sichtverbindung hierher. Der Triumph verdrängte alle Gedanken an irgendein Mißgeschick.

Leichter Südostwind versprach beständiges Wetter und es blieb Zeit, das Gipfelerlebnis voll auszukosten. Alles Land, so weit ich sehen konnte, war nun "unter" mir, südlicher als ich - der Schatten "Nordkap" zählte nicht - und ich hatte es aus eigener Kraft geschafft!

Nicht leicht, sich wieder loszureißen! 13 Stunden Marsch lagen vor mir. Insgeheim hoffte ich, manchem Geröll besser ausweichen zu können als auf dem Hinweg. Wirklich: Von gegenüber fand ich eine halbwegs "grüne" Anstiegsroute durch den steilen Hang, der mich zuletzt noch hatte stoppen wollen. Die Ju 88 war keinen zweiten Umweg wert. An der Talschulter des Sandfjordelven boten sich lange grüne Abschnitte an. Mein Rückweg geriet entschieden bequemer als der Hinweg, allerdings auch länger. Vor mir die Einsattelung mit See und Wiese: Wo war das Zelt? Ach ja, ich ging ja weiter westlich als am Morgen - endlich sah ich es. Erleichtert ruhte ich zwei Stunden lang aus - zum Schlafen war ich viel zu aufgedreht.

Voll bepackt marschierte ich weiter, hielt mich noch dichter an den Sandfjordelv als vorher - das Zelt brauchte ich ja nicht mehr zu suchen - und nutzte jedes grüne Fleckchen aus. Seine Zuflüsse und Seen gaben zuverläßig Auskunft, wo ich mich gerade befand. Früher als gedacht war ich dort, wo ich auf dem Hinweg den Kamm erreicht hatte, aber ich erkannte die Gegend nicht wieder. Mißtrauisch ging ich im Kreis, fand den Steinmann von gestern. Gottseidank!

Nun, da der kritischste Punkt hinter mir lag und der restliche Rückweg nichts eigentlich Neues, nur noch mühsames Kraxeln und Latschen verhieß, war plötzlich "die Luft 'raus". Fast achtlos stolperte ich, noch nahe der Kammhöhe, an einer steinernen Unterkunft vorbei, die ich gestern nicht bemerkt hatte - unfähig zu den hundert Metern Umweg, die das Ansehen gekostet hätte. Der Fotoapparat blieb fast arbeitslos im Rucksack. Ich brauchte alle Kraft, die mir blieb, für den Marsch über Geröll, bergab, durch einen Wasserlauf, wieder bergauf, und immer noch einmal. Der Wind frischte auf und machte mir das Balancieren über die groben Steinbrocken schwer. Hätte ich es mit einem oder zwei Stöcken leichter gehabt?

Im selben Masse, wie die Landschaft wieder an Vielfalt gewann, erkannte ich Einzelheiten vom Hinweg wieder, konnte bessere Routen nutzen als zuvor. Da rauschte die Kaskade, an der ich gestern Mittagsrast gehalten hatte; später kletterte ich über einem unsichtbar in der Tiefe rauschenden Bach aufwärts zum nächsten See, viel einfacher als die Schotter-Route vom Vortag... Endlich stand ich in der letzten hohen Einsattelung, konnte hinunter nach Mehamn sehen, das in der diesigen Helle der arktischen Nacht wie unwirklich dalag. Steil ging's abwärts zum Sörfjordelv, eine seichte Stelle zum Waten war zu suchen, noch einmal aufzusteigen. Dann kam der lange, wellige Abstieg zum Mehamnelv - eine fast endlose Stunde. Mit letzter Anstrengung durchwatete ich den Fluß, kletterte die steile Böschung zur Straße; empor, torkelte zum Auto. Elf Uhr: Vor dreizehn Stunden noch hatte ich auf dem Nordkinn gestanden... Eine bis dahin aufgesparte Dose Bier und ein üppiges Mahl erweckten die Lebensgeister wieder.

Irgendwann später unterbrach das sanfte Trommeln des feinen arktischen Regens meine Träume: Ich hatte wieder einmal Glück gehabt.

Am übernächsten Tage besuchte ich - bei strahlendem Sonnenschein - die "Telegrafstü" auf dem Ifjordfjell, die uns damals gerettet hatte: Noch ein bißchen stärker angenagt, aber noch immer mit heilem Dach. Jetzt holte ich das seinerzeit versäumte Foto nach...

Im Sommer 1994 besuchte ich die Nordkinn-Halbinsel wieder, diesmal begleitet von unserem jüngeren Sohn und dessen Frau. Aus der geplanten Wiederholung der Wanderung wurde nur ein ausgedehnter "Spaziergang". Die "Kinder", weniger berggewohnt als ich, empfanden die Kraxelei über urweltliche Blockmeere und kirchendachsteile Hänge als "lebensgefährlich" und streikten, als heftiger Wind und dunkle Wolken aufkamen. Der Regen, den sie ankündigten, ließ sich allerdings noch einen Tag Zeit... Die Telegrafstü, die schon der Erinnerung wegen wieder besucht werden mußte, war inzwischen gründlich zerstört worden. Ganz offensichtlich hatte jemand Gefallen an den gut erhaltenen Balken gefunden, aus denen die Wände erbaut waren. Alles übrige ließ man als Trümmerhaufen liegen. Ich hatte den Norwegern eigentlich etwas mehr Respekt vor ihrer eigenen Geschichte und deren Zeugnissen zugetraut...


Nordskandinavien

Das Land der Mitternachtssonne ist von Deutschland ungefähr 3000 Reisekilometer (einfach) entfernt. Daher lohnt es sich, über Verkehrsmittel und Reiseroute dorthin nachzudenken.

Die drei Länder Norwegen, Schweden und Finnland haben weitgehend offene Grenzen gegeneinander. Finnland hat sich in der Zeit des sowjetischen Einflusses ein wenig von seinen Nachbarn abgesetzt und führt z.B. an manchen Grenzübergängen von Schweden und Norwegen Zollkontrollen durch. In umgekehrter Richtung habe ich noch keine Kontrolle erlebt.

Die Eisenbahn bringt einen in Norwegen bis Fauske, etwa 100 km nördlich des Polarkreises, in Schweden bis Kiruna und von dort auch nach Narvik in Norwegen. In Finnland endet die Bahn in Rovaniemi am Polarkreis.

Weiter nördlich gelangt man in allen drei Ländern per Bus. Die Busfahrpläne sind aufeinander abgestimmt, so daß man auf den Haupt- Durchgangsstrecken auch mit Umsteigen recht flott vorankommt. Allerdings bedeutet jeder versäumte (Bahn- oder Bus-) Anschluß im Norden einen halben bis ganzen Tag Wartezeit.

Jugendliche, Studierende und Rentner erhalten auf fast allen skandinavischen Verkehrsmitteln Ermäßigungen bis 50 Prozent.


Anreise nach Mehamn mit dem Wagen:

Am schnellsten kommt man auf der Europastraß 4 voran, die als "Vogelfluglinie" zwischen Fehmarn und Dänemark beginnt und entlang der schwedischen Ostseeküste nach Norden führt. Vom finnischen Kemi fährt man auf der Nationalstraß 4 über Rovaniemi nach Inari, dann über Utsjoki nach Tana bru in Norwegen, von dort auf der Straße; 98 nach Ifjord und auf der Straße; 888 nach Mehamn. Dieselbe Route kann man ab Rovaniemi auch mit Linienbussen fahren.

Eine landschaftlich lohnende Alternative bietet die Europastraß 6 in Norwegen, der man bis Lakselv am Porsangerfjord folgt. Dann fährt man auf der Straße; 98 weiter nach Ifjord und von dort nach Mehamn. Dieselbe Route ist ab Fauske mit Linienbussen zu fahren.

Auch die schwedische "Inlandsroute", die in Örebro von der Europastraß 3 abzweigt, bietet landschaftlich viel Reizvolles. Parallel dazu kann man mit der Bahn reisen, muß dann ab Gällivare in den Bus umsteigen. In der Verlängerung nach Norden stößt man nach einer kurzen Strecke durch Finnland im norwegischen Alta auf die E 6. Auch diese Strecke wird von Bussen befahren. Busfahrpläne bekommt man in den Touristenbüros und Postämtern.


Anreise mit dem Flugzeug:

Mehamn wird täglich zweimal von einer Linienmaschine angeflogen, die in Lakselv Anschluß an das skandinavische und europäische Luftverkehrsnetz hat.


Besonderheiten der "Nordkalotten"-Region:

Als "Nordkalotte" bezeichnet man die "Kappe" des Globus zwischen Polarkreis und Nordpol. In dieser Region wird es von Mitte April bis Ende August nicht finster. Die Nächte sind umso heller, je weiter man nach Norden vordringt. Am Polarkreis geht die Sonne einen Tag lang (Sommersonnenwende) nicht unter, am Nordkap scheint sie ungefähr 80 Tage ohne Unterbrechung. Man kann also im Sommer die meisten "Outdoor"- Aktivitäten ohne Rücksicht auf die Tageszeit unternehmen. Viele Wanderungen und Bergtouren sind gerade "nachts" besonders reizvoll.

Die norwegische Küste wird bis weit um das Nordkap herum vom Golfstrom umspült und gewärmt. Das führt an den Gebirgshängen zu hohen Niederschlagsmengen, die nach Norden hin und landeinwärts nachlassen. Der Regen im hohen Norden ist oft fein, aber durchdringend. Gewitter und Wolkenbrüche sind selten. Manchmal fällt auch in tiefen Lagen noch im Juni und schon im August Schnee. Der erste Frost tritt oft schon Ende August auf.


Etwas Politik und Geschichte

Norwegen war von 1940 bis 1945 von deutschen Truppen besetzt. Nach dem Ausscheiden Finnlands aus dem Krieg (Herbst 1944) stiessen sowjetische Truppen an der Eismeerküste nach Westen vor. Die Wehrmacht hinterließ auf dem Rückzug "verbrannte Erde" von Kirkenes bis zum Ostufer des Lyngenfjords; die Bevölkerung wurde zwangsweise evakuiert. Manche Norweger, vor allem solche, die damals Haus, Hof und Schiffe verloren, stehen deshalb deutschen Touristen noch immer reserviert gegenüber.


Zu der Nordkinn-Wanderung:

Da es keinen bezeichneten Pfad gibt, muß jeder selbst suchen, wo und wie er am besten vorankommt. Der alte Hunderttausender-Kartensatz ist mittlerweile durch einen Fünfzigtausender-Satz abgelöst. Man bekommt die regionalen Blätter in allen größeren Orten, z.B. beim Konsum ("Samvirkelag") für umgerechnet etwa 8 DM pro Blatt.

Der größte Teil der Anmarschroute ist von keiner Siedlung her einsehbar - auch das Nordkinn ist von Mehamn aus nicht sichtbar. In seiner näheren Umgebung gibt es kein bewohntes Anwesen mehr (einige verlassene Höfe am Sandfjord sind vielleicht noch als Notunterkunft geeignet). Deshalb sollte man zu mehreren gehen oder hinterlassen, was man vorhat (z.B. am Flughafen). Eventuell läßt man einen, der keine Lust zum Mitgehen hat, an der Straße; zurück; am besten mit einem Funksprechgerät. Vor dem Abmarsch vereinbaren, wann man Kontakt aufnimmt und auf welchem Kanal (z.B. alle zwei Stunden zwischen morgens und abends).

Ausrüstung: Junge Leute können die 40 Kilometer vom Parkplatz zum Nordkinn und zurück eventuell ohne Biwak durchziehen. Anderenfalls ist komplette Biwakausrüstung unerläßlich. Ein warmer Schlafsack gehört dazu. Auch die Kleidung muß für alle Eventualitäten geeignet sein: Ein Wettersturz am Eismeer ist genauso gefährlich wie in den Bergen.

Schuhwerk: Das Nordkinn ist keine Halbschuh-Tour! Gummistiefel oder Bergschuhe: Die Einheimischen gehen weit überwiegend in Gummistiefeln. Bergschuhe müßte man zum Waten gegen Turnschuhe tauschen. Barfuß-Waten ist wegen der scharfkantigen Steine nicht zu empfehlen. Notfalls geht es sich in nassen Bergstiefeln auch ganz passabel.

Trinkwasser findet man in fast allen Niederungen. Die letzte sichere Wasserstelle vor dem Nordkinn bietet der See (273) auf der Hochfläche. Im Notfall: Flugzeuge, die Mehamn anfliegen (nur wenige pro Tag) kommen zum Teil von Südwesten und überfliegen den Nordkinn-Rücken in relativ geringer Höhe. Es besteht daher Aussicht, bemerkt zu werden, wenn man das Signal "H" für "help" mit Ausrüstungsteilen großflächig und auffällig auslegt. Daß eine Bergungs-Aktion bezahlt werden muß und teuer wird, braucht wohl nicht betont zu werden.

Ob die im Bericht genannte steinerne Unterkunft am Hauptkamm bewohnbar ist, möge der nächste feststellen, der dort vorbeikommt!

Es ist möglich, sich von Mehamn aus mit einem Boot an die Nordkinn-Ostküste fahren und sich dort absetzen zu lassen. Der Aufstieg aufs Nordkinn ist Geröllkraxelei und entsprechend anspruchsvoll.



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